BSG, URTEIL V. 13.07.2022 – B 7/14 KG 1/21 R – Die Erwerbsfähigkeit der Eltern als Voraussetzung für den Bezug von Kinderzuschlag

von Jessica Michelle Wenzky, LL.B.

Problemstellung 

Wenn Familien nicht ausreichend Einkommen erzielen, um den Bedarf ihrer Kinder zu decken, kann ein Anspruch auf Kinderzuschlag nach § 6a BKGG bestehen. Grundsätzlich orientieren sich die Anspruchsvoraussetzungen und die Berechnung der Leistung am SGB II. Da im SGB II an sich nur Erwerbsfähige einen Anspruch haben können, stellt sich die Frage, ob dies beim Kinderzuschlag genauso sein muss. Insbesondere für die Rechtslage, welche seit dem Starke-Familien-Gesetz ab 1.1.2020 galt, war dies noch nicht ausreichend geklärt.

Inhaltliche Zusammenfassung

Die Klägerin – eine Mutter von drei unter 15-jährigen Kindern – klagte vor dem BSG auf die Gewährung von Kinderzuschlag für den Zeitraum Februar 2018 bis Dezember 2020. In diesem Zeitraum und darüber hinaus bezogen sie und ihr Ehemann befristete Renten wegen voller Erwerbsminderung sowie als weitere Leistungen Kindergeld, Elterngeld und Wohngeld. Die Familienkasse lehnte den Antrag auf Kinderzuschlag mit der Begründung ab, dass die Hilfebedürftigkeit im Sinne des § 9 SGB II nicht vermieden werde (s. § 6a Abs. 1 Nr. 4 BKGG alte Fassung). Auch hatte keines der Kinder das 15. Lebensjahr vollendet; somit konnten diese ihre Eltern nicht in den Anwendungsbereich des SGB II ziehen. Die Klagen vor dem SG und LSG blieben erfolglos.
 

Wesentliche Gründe

Das BSG wies die Revision der Klägerin als unbegründet zurück. 

Im vorliegenden Fall erfüllten die Eltern nicht die Voraussetzung des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II in Verbindung mit § 8 SGB II, da diese voll erwerbsgemindert waren. Die Kinder hatten gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II noch nicht das erforderliche Mindestalter erreicht, um erwerbsfähige Leistungsberechtigte zu sein. Es bestand aufgrund der fehlenden Erwerbsfähigkeit somit kein Anspruch auf Kinderzuschlag. 

Hauptproblem war der Wortlaut des § 6a Abs. 1 Nr. 4 BKGG alte Fassung Durch das Starke-Familien-Gesetz v. 29.4.2019 wurde die maßgebliche Norm (nun § 6a Abs. 1 Nr. 3 BKGG) ab dem 1.1.2020 umformuliert. Dadurch ging aus der geänderten Norm nicht mehr eindeutig hervor, dass nur erwerbsfähige Personen Anspruch auf Kinderzuschlag haben können. Das BSG stellte deshalb in seinem Urteil fest, dass zumindest eines der Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft einen hypothetischen Anspruch auf SGB II-Leistungen haben muss. Deswegen muss mind. eine Person in der Bedarfsgemeinschaft erwerbsfähig sein.  

Im Folgenden argumentiert das BSG mit dem Sinn und Zweck, der systematischen Lage des § 6a BKGG und der Entstehungsgeschichte der Norm.

Bei Einführung des Kinderzuschlages habe der Gesetzgeber wiederholt betont, dass Eltern, die zwar ihren eigenen Bedarf decken können, aber nicht den ihrer Kinder, nicht bloß aufgrund ihrer Unterhaltsbelastung auf SGB II-Leistungen angewiesen sein sollten.[1] Es sollte eine alternative Leistung geschaffen werden, sodass keine SGB II-Leistungen notwendig würden. Gleichzeitig sollte ein Erwerbsanreiz für die Eltern entstehen.[2] Dieses Ziel könne aber nur umgesetzt werden, wenn eben nur Erwerbsfähigen der Zugang zum Kinderzuschlag eröffnet werde. (Rn. 13-17)

Systematisch orientieren sich die Norm des § 6a BKGG und die Berechnung der Leistung (wie eingangs bereits erwähnt) stark am SGB II. Die Leistungen sind aufeinander bezogen. Auch hier werde deutlich, dass der Gesetzgeber erwerbsfähige Eltern im Blick hatte, als er die Voraussetzungen für den Kinderzuschlag gestaltete. (Rn. 13-17)

Das BSG schätzte zudem den Ausschluss von Nicht-SGB II-Berechtigten als verfassungsgemäß ein. (Rn. 20) Die Differenzierung zwischen den verschiedenen Personengruppen Erwerbsfähige und Nicht-Erwerbsfähige verstoße nicht gegen das allgemeine Gleichbehandlungsgebot aus Art. 3 Abs. 1 GG, da sie aus einer gesetzgeberischen Grundentscheidung resultiere und mit Hilfe des Kinderzuschlages das legitime Ziel eines Erwerbsanreizes verfolgt werde. Jedoch gäbe es eben auch andere Konstellationen, in denen das Ziel Erwerbsanreize zu schaffen nicht realisiert werden könne, die Personen aber gleichwohl Anspruch auf Kinderzuschlag hätten. Diese „Ausnahmefälle“ seien allerdings hinzunehmen. (Rn. 21-26)

Bewertung

Insgesamt ist das Urteil des BSG nachvollziehbar und konsequent. Ihm ist in der Argumentation sowie im Ergebnis zuzustimmen. 

Die Klägerin mag zwar eventuell hilfebedürftig nach dem SGB XII sein, dies rechtfertigt aber eben gerade nicht einen Bezug von Kinderzuschlag, da vor allem bereits erwerbstätige Eltern unterstützt werden sollen. Fraglich ist natürlich, inwieweit der wie vom Gesetzgeber verfolgte Sinn und Zweck, so – wie ihn das BSG interpretiert – noch erfüllt werden kann, wenn man andere Fallgestaltungen betrachtet: Beziehen die Eltern beispielweise eine vorgezogene Altersrente, können sie trotzdem eine Bedarfsgemeinschaft bilden und somit grundsätzlich Kinderzuschlag beziehen. Das Argument, man möchte Erwerbstätigkeit fördern, greift in dieser Situation nicht. Noch deutlicher wird es, wenn man annimmt, dass im vorliegenden Fall ein Kind das 15. Lebensjahr erreicht hat und somit dessen erwerbsgeminderten Eltern einen Sozialgeldanspruch gemäß § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II vermitteln kann. In dieser Situation besteht ebenfalls kein Erwerbsanreiz für die Eltern. Eine Überlegung dahingehend, ob Erwerbsunfähige ebenfalls Anspruch auf Kinderzuschlag haben könnten, ist daher absolut gerechtfertigt. Man hätte bei Einführung des Kinderzuschlages auch darüber nachdenken können, allein die Bedarfe des Kindes in den Mittelpunkt zu stellen und eine Anspruchsberechtigung nicht von der Erwerbsfähigkeit der Eltern abhängig zu machen. Der Gesetzgeber hat aber von seinem sozialpolitischen Gestaltungsspielraum Gebrauch gemacht, sodass nach aktueller Rechtslage auch im Kinderzuschlag eben die §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 8 SGB II gelten. Dies kann auch gegen den Willen des Gesetzgebers nicht umgedeutet werden. Der Gesetzgeber hatte bei der Ausgestaltung des Kinderzuschlages den „Normalfall“ erwerbstätiger Eltern im Blick. Dass andere Personengruppen, die vom Normalfall abweichen, durch die Gesetzeslage aber trotzdem vom Kinderzuschlag profitieren, ist – wie das BSG zutreffend schildert – hinzunehmen, da vom Gesetzgeber nicht die „beste Lösung“ verlangt werden kann. In Zukunft könnte sich das Problem aber evtl. durch die Einführung einer Kindergrundsicherung beheben lassen, indem die Kinder aus den Leistungssystemen des SGB II und SGB XII herausgelöst werden könnten.[3]


[1] BT-Drs. 15/1516, S. 83.
[2] BT-Drs. 15/1516, S. 83.
[3] BMFSFJ, Eckpunkte zur Ausgestaltung der Kindergrundsicherung, Stand: 18.1.23, S. 7.